Der junge Kollege setzte noch ein „wo Du doch so sportlich bist“ hinzu und grinste. Wie konnte er sich merken, dass ich lange Strecken lief? Beim letzten Firmenlauf wurde ich zwar mit „Der Thomas wurde gar nicht langsamer, der scheint ja wirklich laufen zu können“ gelobt, aber mein Training hatte ich im nie groß thematisiert. Mir fiel nichts schlagfertiges ein und ließ es bei einem „ja, ja die Jugend von heute“.
Im Büro gingen wir immer im Rudel zur Frühstücks- und zur Mittagspause oder auch zum Kaffeeholen von den Kaffeemaschinen. Nur beim Gang auf die Toilette war ich alleine. Ich mochte diese Gesellschaft mit jungen Leuten, die nahezu ausnahmslos auch meine Kinder sein konnten. So hörte ich mir die Kindergarten- oder Schulanfängergeschichten an. Manchmal wurde ich tatsächlich um eine Meinung gefragt. Ich erzählte dann, wie es früher war. Aber nur kurz, denn die Geschichten von Pokemon oder den neusten Eisprinzessinnenfilmen fand ich viel interessanter.
Überhaupt ging es in der Firma generell gesellig zu. In den Gängen waren Pop-Up-Besprechungen an der Tagesordnung. Es trafen Projektgruppen und stellten ihre Arbeit oder auch ihre Problemstellung vor. An den Wänden hingen Plakate mit aufgeklebten Zetteln, die dann der Reihe nach besprochen wurden. Auch eigentlich unbeteiligte Mitarbeiter konnten jederzeit zu hören und sich mit eigenen Ideen einbringen. Häufig blieb ich auf dem Weg zum Schreibtisch bei diesen Gelegenheiten stehen. Das lag vermutlich auch an den recht hohen Anteil weiblicher Kollegen, die ich als Softwerker nie in solch einer großen Anzahl bei der Arbeit angetroffen hatte.
Im Winter 2020 hatte ich schon lange keinen Halbmarathon unter zwei Stunden gelaufen. Für 2020 nahm ich mir dies vor und lief jeden Dienstag und Donnerstag am Morgen im Fitnessstudio eine halbe Stunde auf dem Laufband. Das Ziel war nicht Ausdauer sondern die Geschwindigkeit wieder zu bekommen. In meiner guten Zeit brauchte ich für eine Kilometer maximal fünf Minuten. Mein schnellster Halbmarathon war in einer Stunde und 34 Minuten vorbei. Allerdings war das schon mehr als zehn Jahre vorbei und die Zeiten von 2018 und 2019 bewegten sich über zwei Stunden. Mittlerweile startete ich in der über 60er Klasse und hatte mir vorgenommen, es noch einmal wissen zu wollen.
Das Fitnessstudio nutze ich an den Abenden noch einmal zum Training an den Geräten und zur Sauna. Muckibude mit Sauna hatte ich mit vierzig Jahren angefangen und, wenn ich nicht im Urlaub war, jede Woche zweimal besucht. Die Muckibude in Nürnberg lag zum einen an der U-Bahn, so dass ich auf dem Weg vom Büro für eine Stunde dort trainieren konnte, zum anderen hatte sie noch ein hochinteressantes Publikum, das sich in einer großen Halle aufhielt und von allen Geräten und Hantelständen betrachtet werden konnte. Es gab kräftige Bodybuilder mit und ohne Wampe, ausgesprochene Schönlinge, junge und ältere Frauen, die ihre Körper stählten und einmal beobachtete ich einen Scheich mit Sklaven. Der Scheich wandete sich in feinster Sportkleidung, sein Begleiter stellte die Geräte ein, reichte ihm zu trinken und wedelte ihm Kühlung zu.
Nach dem Training machte man sich nackig, duschte warm mit Seife, besuchte die, manchmal wirklich gemischte, Sauna und kühlte sich mit eiskaltem Wasser wieder ab. In dieser Kombination war das nur in diesem Fitnessstudio möglich, bei anderen fehlte die Sauna entweder ganz oder war von der Umkleide weit entfernt.
Je nachdem wann ich in der Muckibude aufschlug, traf ich auf einen Walter vor, beim oder nach dem Saunaaufguss. Wenn ich früh war, hörte ich ein „Aufguss“ nach dem Duschen, wenn ich spät war setzte ich mich zu einem aufgegossenen Gang dazu. Er zelebrierte den Aufguss wie ein gelernter Saunameister. Zunächst erzählte er was er mitgebracht hatte und auch die Wirkung von Eukalyptus und ähnlichen Sorten. Nachdem er die Kanne auf den Ofen geleert hatte, nahm er Handtuch und fächerte reihum den Schwitzenden die Dämpfe zu. Wenn jemand neu hinzukam, stellte er sich mit einem „ich bin der Walter“ vor.
Dieses eine Mal Treppensteigen vom Erdgeschoss, in dem die Kantine lag, bis zum dritten Stock war das einzige Krankheits- oder Schwächesymptom, dass ich in jenem Winter hatte. Wie jedes Jahr um diese Zeit ging eine Erkältungswelle herum. Etwa die Hälfte vom Rudel lag daheim. In der Kantine und auf den Gängen war das kein Thema. Ich hatte ein oder zwei Jahre mit „der Seuche“, wie mein Hausarzt meinte, gekämpft und war deswegen auch in diesem Winter abgehärtet. Die neue Seuche war bis Ende Januar nur ein Gerücht aus China.
Ende Januar hörte ich im Radio vom Besuch der Chinesin bei webasto in München. Sie kam zur Ausbildung nach München, unterhielt sich mehrere Tage mit Mitarbeitern und erkrankte danach in China. Einige dieser Mitarbeiter wurden positiv getestet und in Straubing in Quarantäne gesteckt. Der Chefarzt berichtete sie seien alle „pumperlgesund“ aber sicher sei sicher. Neben normalen Symptomen wie Fieber, Schnupfen und Husten könnten die Betroffenen auch vorübergehend nichts Riechen oder Schmecken.
Es gab keinen Grund zur Beunruhigung.