Eine Erkältungswelle und dann sind die Pflegeheime wieder leer


Der knallharte Kommentar des Bruders vom Geburtstagskind führte zu einem Weinkrampf einer Freundin. Er fügte noch ein „oh, Entschuldigung, ich weiß, aber …“ an. Die Freundin hatte ihren Mann in solch einem Pflegeheim und wollte so etwas nicht hören. Ihm, als Klinikarzt, war im Juli 2020 seine Stellung zur Pandemie wohl wichtig kund zu tun. Kaum sah er, was er angerichtet hatte, schwieg er betreten. Das war auf der Geburtsfeier seines Bruders, der seinen Freundeskreis zur Feier in seinen Garten geladen hatte.

Es waren unsere wirklich älteren Freunde, die sämtlich zur Risikogruppe gehörten und ein Recht hatten Angst zu haben. Wir nahmen das so an und fragten auch gar nicht nach einer Übernachtungsmöglichkeit in irgendeinem ehemaligen Kinderzimmer, sondern suchten und fanden ein AirBnB in der Nähe. Es waren keine dreihundert Meter zum Garten, so konnten wir mit Abstand mitfeiern.

Die Pension war nicht ganz so einfach finden, wie sie sich im Internet beschrieb. War sie im Internet ganz alleine, war sie im wirklichen Leben Teil einer Gartenanlage mit Café und Seminarräumen. Das Café hieß anders als die Pension, aber ein kleiner, neu hinzugefügter Pfeil am Eingang wies auf ein Haus am Ende eines kleinen Parks mit dem Namen der Pension, sodass wir schon richtig waren.

Ohne Gepäck standen wir am Eingang einer alten Villa, drückten auf die Klingel und warteten. Eine maskierte Frau öffnete schnell die Tür und entfernte sich direkt wieder von uns. Ohne richtig zu grüßen, wies sie auf ein Plastikgefäß am Eingang hin: „Hier desinfizieren Sie bitte ihre Hände“. Auf einem Tisch lagen Anmeldeformulare. Nachdem meine Frau diese ausgefüllt hatte, zeigte sie uns das Zimmer, mit einem bedauernden „Eigentlich haben wir ja zwei Zimmer im Angebot, aber leider dürfen wir nur ein Zimmer, da ist das mit Frühstück eigentlich … aber das nehmen Sie dann oben ein.“ Sie wollte bestimmt etwas mitteilen, wusste gar nicht, wie das herüberbringen konnte.

Kurz vor drei Uhr vorließen wir die Pension und kamen pünktlich zur Feier in den Garten an. Dort sahen wir die alten Freunde wieder. Aber an Händeschütteln und Umarmungen war gar nicht zu denken. Sie standen paarweise auseinander und winkten uns zu. Da konnten wir gar nicht auf ein Händeschütteln und Umarmen bestehen. Sie waren die Älteren und hatten Angst. Bei dem jüngeren Freundespaar in Nürnberg war das genau andersherum. Zwar meinten beide „wir bleiben auf Abstand“, aber dann ließen sie sich umarmen und die Hände schütteln.

Bald saßen wir an den Tischen. Reichte früher ein eng bepackter Tisch für den gesamten Freundeskreis aus, so waren die Stühle und Gedecke auf zwei Tischen verteilt. Brav verteilten sich die Gäste und erzählten sofort, wie sie es geschafft hatten, von der Pandemie verschont zu bleiben. Der eine schilderte, wie die Enkel, die sonst immer über den Garten zu ihnen auf die Terrasse kamen, nun Abstand hielten. Die ältere Schwester war da ganz ordentlich und hielt den kleinen Bruder zurück, der das zunächst gar nicht einsehen wollte. Der andere, ein Mann des Theaters, der immer außer Haus war, hatte sich mit seiner Frau im Vorort eingeschlossen. Die Nahrungsmittel brachte die Tochter vor die Tür. Erst wenn sie wieder wegfuhr, holte er die Rationen ins Haus. Aber auch er verließ frühmorgens, wenn keiner unterwegs war, das Haus, damit er im Wald, ganz abgelegen, ein wenig Rentnerjogging machen konnte.

Etwa an dieser Stelle des Geburtstags tat der Klinikarzt, der Bruder des Geburtstageskinds, seine Einschätzung kund. So wie er es formulierte, wollte er noch mehr kundtun. Der Weinkrampf zerstörte diesen Einwurf. Seit Jahren kam ein ehemaliger Arbeitskollege immer zu der Geburtstagsfeier im Sommer. Anfangs zitterte er, vor einem Jahr war er im Rollstuhl und, in diesem Jahr, kam nur seine Frau, die einfach nur weinen konnte, als sie diese Spitze mitbekam. Der Arzt entschuldigte sich sofort. Die entstandene Stille beendet jemand mit dem Hinweis, dass Menschen ein „System verbundener Schläuche seien, die langsam porös werden“. Und deswegen würden Leute in seinem Alter eben eher von Krankheiten erzählen. Diese Bemerkung schloss das Thema mit den Krankheiten dann auch ab und es ging dann mit alten Autos weiter.

Nach etwa drei Stunden, als es im Schwarzwald kälter wurde, fand die Feier ihr Ende. Alle verabschiedeten sich. Im Haus weiterfeiern, kam niemandem in den Sinn. Wir kehrten in die Pension zurück und wussten nicht so recht, was wir tun sollten. Weder Uhrzeit noch Bauchfülle noch Alkoholspiegel mahnte eine Bettruhe an. Auf gut Glück schauten wir uns die Kleinstadt an. Wir kamen hier immer nur zu den Feiern des Freundes hin und kannten nur den Weg „nach der Einfahrt die erste Straße links bis zu dem Haus an dem sich die Straße gabelt“. So entdeckten wir ein Ortszentrum mit Kirche, Kindergärten, Vorschulen, Yogastudios im Dornröschenschlaf, das auf seine Wiederbelebung wartete. Die Gastronomie im Zentrum hatte geschlossen, aber am Ortseingang hatten wir Glück und fanden eine Pizzeria, die auf italienische Art und Weise einfach nur offen war. Meine Frau musste nach der Liste mit den Namen fragen, damit sie sich eintragen konnte.

Am nächsten Morgen fanden wir zum Frühstück neben einer reichhaltigen Auswahl an gesunden, bestimmt veganen, Brotaufstrichen eine völlig veränderte Vermieterin vor. Sie brachte, unmaskiert, die dampfende Kaffeekanne in den Frühstücksraum und sprudelte beim Eingießen vor Informationen über. Wie sehr sie sich freute, dass es wieder losging mit dem Geschäft. Mit ihrem Lebenspartner zusammen hatten sie sich dieses Paradies erschaffen und alles in Eigenregie modernisiert. Die Rosen im Garten sollten wir erst einmal in ein paar Wochen sehen. Hoffentlich könnte sie bald wieder ihre Seminare machen und ihr Partner machte ganz herrliche Vogeltränke aus Beton, die er für einen gemeinnützigen Verein verkaufte. An dieser Stelle hatte sie eingegossen und die Kanne abgestellt. Wir luden sie nicht ein, uns Gesellschaft zu leisten.

Nach dem Frühstück verabschiedeten wir uns bei dem Geburtstagskind. Wir klingelten kurz, machten einen Schritt zurück und riefen durch die vorsichtig geöffnete Tür unser „War toll, wir fahren dann wieder. Im nächsten Jahr aber richtig“ zu. Anschließend ging es bei einem anderen Paar vorbei, das uns förmlich auf die Terrasse zu einer Tasse Kaffee zwang. Wir erzählten von der wundersamen Wandlung unserer Vermieterin beim Frühstück. Unsere Freunde hatten von dem Paar mit der Pension schon gehört und kommentierten die Betontränken mit „Gut, dass wir die damals nicht gekauft haben, wenn das einfach Beton auf einem Rhabarberblatt ist“. Meine Bemerkung, dass die beiden in ihrem Alter, immerhin so alt wie ich, sich solch ein Projekt an die Backe banden, wurde mit „Warum solltest Du da nicht machen können?“ und „In jedem Alter kann man noch ein Projekt anfangen“ quittiert.


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