Die zwölf Rosinen


Das Jahr 2020 fing nicht mit den 12 Rosinen an, wie es beim Luisito üblich war. Diesmal war ich mit Frau dabei und wir unterhielten uns prächtig über Stierkämpfe, die ich unbedingt einmal in Spanien besuchen wollte. Zum 15.August bei der Corrida in Gijón lud ich mich ein. Wir, und auch die ganze Welt, ahnte noch nichts, wie das Jahr ablaufen sollte.

Dass wir überhaupt so in das Jahr 2020 hineinfeierten war ein spontaner Entschluss. Vor Weihnachten hatten wir keinen Plan, was wir über den Jahreswechsel machen wollten. Der Nichte meiner Frau, die in Toulouse wohnte, ging es genauso. Diese lud ihre Eltern zu einem Besuch über den Jahreswechsel ein und fragte, ob wir nicht vorbeikämen. Es gab preiswerte Flüge von Nürnberg nach Toulouse, wir sagten zu und bekamen zur Antwort, dass es nicht bei Toulouse bliebe, sondern ein Besuch bei Luiz, der uns auch schon mal in Deutschland besucht hatte, geplant war. Es würde über Lourdes und San Sebastian nach Bilbao gehen.

Von Nürnberg gab es keinen Flug von Bilbao zurück, wohl aber von München. Mit wenigen Klicks buchten wir die Flüge von München nach Toulose und von Bilbao nach München. Der Parkplatz für das Auto in München war teurer, als eines von den Flugtickets. Am 27 Dezember landeten wir in Toulouse, wo mir ein Restaurantbesuch in Erinnerung ist, in dem alle Tische eng besetzt waren. Man musste beim Schneiden des Steaks aufpassen, nicht dem Nachbarn den Ellbogen in die Rippen zu rammen. Der Weg zu unserem Tisch, den die Nichte reserviert hatte, gestaltete sich kurvenreich. Alle Tische waren in unterschiedlicher Zahl zusammengestellt, so dass es keinen geradlinigen Weg gab.

In Lourdes waren wir in einer Art Bed&Breakfast, deren Vermieterin in erster Linie Gesellschaft haben wollte. Das Frühstück bot ihr die Gelegenheit eine Tasse Kaffee mitzutrinken und Teile ihrer Lebensgeschichte zu erzählen. Ich erinnere mich an ihre genetische Herkunft, auf die sie sehr stolz zu sein schien. Eine Untersuchung ergab, dass sie mehr spanisch als französisch sei, dabei war sie doch hier in diesem Ort geboren. Überhaupt konnte sie das Dorf nach ihrer Rückkehr, ihr verstorbener Mann war Diplomat, nicht mehr erkennen. Alle ihre Freunde und Bekannten waren weggezogen oder verstorben. Macron mochte sie nicht, dieser sei wohl homosexuell und zu schwarzen, jungen Männern hingezogen, aber LePen sei genauso unwählbar. Schlimm waren diese Zeiten und wie schön sei es, dass sie mit ihrem Haus immer Besuch aus der ganzen Welt hätte. Ihr Leben wird sich 2020 ziemlich verändert haben.

Genauso muss sich das Leben in der Altstadt von San Sebastian verändert haben. Zwei Tage verbrachten wir dort, wo alle am Abend flanierten, tranken und aßen. Mit alle sind wirklich alle, Groß und Klein, Jung und Alt, Tourist und Einwohner gemeint. Alle kauften Pintxos, das waren Brote deren Fisch- oder Fleischbelag mit Zahnstochern befestigt war, aus unterschiedlichen Bars. Aus wieder anderen Bars holte man Cidre oder Bier oder Wein. Wenn man keinen Platz in einer Bar fand, stellte man sich auf die Straße und unterhielt sich dort. Am Morgen danach konnte ich aus dem Fenster unserer Unterkunft beobachten, wie die Gläser und Teller wieder den Bars zugeordnet wurden.

Was war nur aus Luisito und seiner Frau geworden? Seine Frau lag damals mit Krebs im Krankenhaus. Es ging wohl zu Ende. Deswegen besuchten ihn Schwägerin und Mann. Wir kannten Luiz nur als stillen, höflichen Begleiter des Schwippschwagers, wenn dieser durch Europa reiste und auf dem Weg zu Geschäftsfreunden bei uns Station machte.

An dem Silvesterabend sahen wir uns wieder. Es fiel kein Wort über die traurigen Umstände. Nach den, damals in der spanischen Welt üblichen, Umarmungen und Küsschen, nahmen wir an der Tafel in der Garage Platz und wurden ununterbrochen mit Speisen und Trank verwöhnt. Es galt der Satz, dass niemand vom Tisch eines Basken aufsteht, wenn noch etwas hineinpasste. Zum Abschluss des alten Jahres sollten sich alle, wie jedes Jahr, vor dem Fernseher versammeln und für jeden Glockenschlag eine Rosine essen, damit das neue Jahr gut verlaufen möge.

Genau das kam für 2020 verspätet!

Der Rückflug am nächsten Tag war zweigeteilt. Am Morgen ging es mit einer Propellermaschine nach Lissabon und am Abend sollte es nach München gehen. Meine Frau freute sich schon auf einen kurzen Besuch in der Stadt. Allerdings war der Abflug schon verspätet. Ich betrachtete verkatert die eher menschenleere Landschaft Nordostspaniens, sie machte sich Sorgen, ob es mit Ausflug in die Stadt noch passen würde. Nach der Landung freute sie sich, der Heimflug hatte sich auf 23:00 verspätet. Das Handgepäck ging in ein Schließfach und wir gingen zur U-Bahn.

Mit einmal Umsteigen waren wir in 30 Minuten im Zentrum Lissabons und flanierten dort eine Stunde. Wir bewunderten die Weihnachtsbeleuchtung, stellten uns bei manchen Diabolojongleuren zu den Zuschauern, kauften die Sardinendosen mit stylischen Etikett für die im Sternzeichen Fisch geborenen Familienmitgliedern, verliefen uns kurz, aßen in einem Strassenrestaurant etwas mit Fischen und fanden auch den Weg zurück zur Metro und zum Flughafen.

Da wollten wir im Sommer 2020 vielleicht noch einmal hin, dachten wir. Das Handgepäck befand sich noch im Schließfach, aber der Rückflug war nicht mehr auf der Anzeigetafel. Der Schalter der Billigfluglinie war verwaist. An einer größeren Anzeigetafel in der Mitte der Terminals erschien ein Eintrag mit der Flugnummer. Es sollte am frühen Morgen weitergehen.

Nun galt es einen Schlafplatz zu finden. Gab es an den Gates Bänke ohne Lehnen zwischen den Sitzgelegenheiten? Wenn wir nicht nach Lissabon gefahren wären, hätte das klappen können. Die paar Stellen zum flach hinlegen waren alle belegt. So wie die Familien aus Südasien, die überhaupt kein Problem mit Schlafen direkt auf dem Boden zu haben schienen, wollten wir die Nacht verbringen und suchten weiter. In der Mitte einer Halle fanden wir Sessel aus Kunstleder. Die Sitzfläche hatte etwa die Höhe eines Kabinenkoffers, so dass dort chinesische oder thailändische Frauen sich schon bequem eingerichtet hatten. So etwas Ähnliches fand sich für meine Frau. Ich schlief die Nacht gar nicht, haderte ein wenig mit der Idee überhaupt diesen Ausflug gemacht zu haben. Dann fiel mir wieder der Stierkampf im Sommer ein, da hatte ich gar nicht mit gerechnet. Ich dachte auch an Luiz und die Geschichten, die ich von ihm und meinem Schwippschwager gehört hatte.

An Viren und möglichen Ansteckungen dachte ich damals überhaupt nicht.


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