Es ist alles zerstört


So hörte ich es gegenüber vom Kaufhof. Keine zwei Meter von mir entfernt, zog sich eine kleine Chinesin ihre Maske herunter, sagte diesen Satz, drehte sich um und ging wieder zu dem chinesischen Paar, das sie auf dem Weg in die Stadt begleitete. Wir waren an diesem Samstag Ende April 2020 in der Stadt, weil wir den Besuch der Innenstadt nicht aufgeben wollten. Dort verbrachten wir vor Corona die Mehrzahl der Samstage.

Nach dem Frühstück machten wir uns auf den Weg durch die leeren Straßen. Wir nahmen den direkten Weg durch die Wohnviertel aus den 50er Jahren. Früher gingen wir nie auf diesem Weg in die Stadt. Mit Autoverkehr erschien es uns zu laut und staubig. Überrascht stellten wir fest, dass die Gründerzeithäuser mit den Plätzen schon einen gewissen Charme hatten. Ich sah das Laufstudio, das die Nürnberger Halbmarathons organisiert hatte. Für die würde die Saison ausfallen.

Zum Schluss durchquerten wir einen Wohnblock, der im Innenhof nicht nur einen Platz für die Müllkontainer, sondern auch einen gut ausgestatteten, aber zur Sicherheit abgesperrten Kinderspielplatz hatte. Als wir diesen Block an der anderen Seite verließen, bei der Bahnunterführung, sahen wir ein Paar mit langen, flatternden Kleidern, das die Ampel vor uns überquerte. Hinter ihnen lief eine kleinere Frau.

Bei uns zeigte die Ampel rot, wir warteten brav und ich beobachtete das Paar, das auf der anderen Straßenseite stehen blieb. Die beiden hätten in einem Kung-Fu Film auftreten können, wenn sie nicht Sneaker statt Sandalen getragen hätten. Sie hatte sich in seine rechte Armbeuge gehängt, lauschte seinen Ausführungen, lachte und winkte nun nach der kleineren Frau. Diese tippelte geschwind herbei, deutete auf den Eisenbahntunnel und erklärte anscheinend etwas dazu. Danach entfernte sie sich wieder ein paar Schritte. Das Paar stolzierte weiter, wir überquerten die Ampel und folgten ihnen in die Stadt.

Unwillkürlich gingen wir einem Tempo, so dass das Paar immer in unserem Blickfeld blieb. Sie gingen zunächst ein wenig schneller, schauten sich dann in Ruhe den Büroneubau auf der anderen Seite der Unterführung an. Hier wurde die alte Post saniert und die Baustelle war für jeden Mann ein Blickfang. Kaum hatten wir sie eingeholt, huschten sie wieder voraus. Der zentrale Busbahnhof fand dann wieder Interesse des Paares, aber nicht der eigentlich historisch viel wertvollere Hauptbahnhof.

Die Altstadt betraten wir mehr oder weniger zusammen. Die verwaiste Königsstrasse schockierte mich. Was war hier noch einige Monate vorher Samstags los! Und nun stand alles leer. In den Straßen nur wir Unentwegte, die sehen wollten, ob die Häuser überhaupt noch standen. Irgendwie hatte die Gesellschaft einen Selbstmord verübt.

Mir fiel das letzte virtuelle Kaffetrinken im homeoffice ein. Es waren nur zwei Kollegen mit dabei. Obwohl beide meine Kinder hätten sein können, sprachen wir immer ohne Scheu miteinander und so hatte ich keine Bedenken meine Sicht auf Corona anzusprechen:

„Eigentlich ist Corona nun vom Tisch. Bei dem Kreuzfahrtschiff vor Japan sind nun die Ergebnisse da. Nur Zwanzig Prozent haben sich überhaupt angesteckt und nur Älteren mit Vorerkrankungen haben Probleme gehabt. Da sollte man jetzt einfach aufmachen, einer von fünf steckt sich an, ist dann halt eine Woche im Bett und gut ist. Man muss nur aufpassen, wenn man über 60 ist.“, wenn überhaupt, eine Problem haben könnten. Alles was unter 60 ist, hat damit kein Problem. Einfach alles wieder aufmachen. Wer sich ansteckt, ist können die Schulen wieder aufmachen und … „

„Das glaube ich nicht. Es sagen doch alle, dass wir da noch warten sollen. Und wir können doch nicht die Alten dann einfach sterben lassen.“ entgegnete die junge Mutter, die sich sonst immer über die Beschwerden ihrer grundschulpflichtigen Tochter beklagte.

„Also ich bin über 60, gehöre zur Risikogruppe und habe Kinder, die es doch einmal besser haben sollen. Ich möchte doch gar nicht, dass sich die ganze Gesellschaft einfach aufhört und alles zerstört. Wenn die Jungen einfach weitermachen, sind bald alle immun und es ist vorbei“.

„Aber das mit dem fiesen Nachwirkungen, will ich nicht.“, meinte der sonst lebenslustige Junggeselle.

Eine schnelle Antwort kam mir nicht in den Sinn und das Gespräch nahm den üblichen Verlauf über Streaming und Delivery. Vielleicht stand ich noch unter diesem „alles zerstören“, als die kleine Chinesin mich unvermittelt vor dem Kaufhof ansprach. Vielleicht hatte sie mich verwechselt und sagte etwas ganz anderes in einer fremden Sprache. Ich jedenfalls verstand „Es ist alles zerstört“.

Dass uns auf einem Spaziergang jemand ansprach, war zu dieser Zeit ziemlich normal. Man war an der frischen Luft um auch andere Menschen zu treffen. Es wurde gegrüßt, nach dem Weg gefragt oder auch das Wetter kommentiert. Die ersten, die wir so antrafen, waren eine Gruppe von Skatspielern, die sich auf einer Bank im Wald trafen.

Sie hörten unsere Schritte und wir hörten ein „Scheiße, da kommt jemand“. Aber es war zu spät, die drei waren schon ziemlich dicht und wir sahen überhaupt nicht bedrohlich aus, so dass daraus eine Unterhaltung über Zeiten wie diese wurde und man könne ja sonst nirgends hingehen.

Wir trafen auch ein zwei junge Männer, die auf einer Felsklippe saßen. Einer grüßte lauthals mit „Ich habe corona, ich riech nichts“. Sein Kumpane meinte, „ist aber auch egal“. Wir fragten nur, ob es noch weit zum Gipfel wäre.

Oben trafen wir auf eine Gruppe aus drei Generationen. Ein etwa gleichaltriger Mann hatte seine Mutter auf den Aussichtspunkt gebracht. Seine Tochter war auch dabei und bot etwas von ihrer Vesper an. Der Mann erklärte „Wir machen jedes Jahr im Frühjahr einen Ausflug nach hier oben. Hier gefällt es meiner Mutter so gut und so lange es noch geht, machen wir das“.

Aber zurück zu dem Ausflug in die verwaiste Stadt. Wir unterhielten uns, was die Chinesin wohl gesagt hatte. Sie hatte ziemlich recht. Das was vor Corona war, war unwiederbringlich zerstört. Ob der Teeladen, vor dem wir standen, die Schließung überleben würde? Die Kunden hätten sich doch, zumindest teilweise, angewöhnt per Internet ihre Tees zu bestellen. Ich bestellte schon fleißig Rot- und Weißwein von diversen Versandhändlern.

Als wir weitergingen, war die Gruppe verschwunden. Ganz alleine liefen wir an der Lorenzkirche vorbei bis zur Pegnitz. Es fehlten sogar die Tauben in der Stadt. Wenn niemand drei im Weckla isst, fallen auch keine Brotstücke herunter.

Wir wollten zurück über die Wörther Wiese gehen und sahen dann beim Cinecitta auf der anderen Seite der Pegnitz eine größere Gruppe junger Araber. Sie bemerkten uns und winkten freundlich herüber. Ich winkte zurück. Wir wunderten uns über die Sicherheit der Geschäfte in der Stadt. Es wäre irgendwie ein Leichtes, dort einzubrechen, wo niemand Wache hält. Im Lokalradio wurde aber von nicht einem Zwischenfall berichtet. Vermutlich hatten die wirklich bösen Menschen Angst, herauszugehen.

Auf der wörther Wiese trafen wir auf einige chinesische Paare, die sich gegenseitig fotographierten. Fasst sah es aus, als würden sie Hochzeitsfotos machen. Sie hielten sich im Arm, suchten blühende Bäume für den Hintergrund aus und posierten. Aber sie sprangen nicht mit ihren gespreizten Fingern in die Höhe, wie sie es sonst machten.

Wir fragten uns, ob das wohl Touristen wären. Aber wie hätten diese nach Deutschland kommen können? Erntehelfer kamen nicht über die Grenzen. Die Chinesen hatten Ende April 2020 angeblich ihre Art von Corona unter Kontrolle und vielleicht durften die wieder reisen. Oder sie besuchten sich untereinander. Deutsche können sie normalerweise sowieso nicht auseinanderhalten, so würde das gar nicht auffallen. Jedenfalls nahmen sie Corona gar nicht Ernst.


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