Dann brichst Du die Regeln


Ich hatte vorgeschlagen, dass, wenn er und seine Frau Corona hatten und auch seine Eltern Corona hatten, sich die Familie doch treffen könnte. Für sie wäre der Zirkus doch vorbei. Er verwies auf die Regeln, die es einzuhalten gelte. Das war für mich selbstverständlich, aber hoffentlich würden sie die Regeln demnächst ja ändern.

Das war der Schlusspunkt des ersten Gesprächs mit einem zufällig getroffenen Kollegen. Es fand im Büro statt. Ende Mai lockerte die Landesregierung die Bestimmungen ein wenig. So durfte mein Arbeitgeber die Innengastronomie im Betrieb wieder öffnen. Er tat dies und teilte mit, dass von nun an jeder, der wieder im Büro arbeiten wollte, dies, unter Einhaltung von Hygienevorschriften, tun könne. Es kam auch die Aufforderung im Laufe des Sommers persönliche Gegenstände vom Arbeitsplatz zu entfernen. Ich nahm das zum Anlass, einen Bürotag auszuprobieren. Vielleicht würde ich ja ein bekanntes Gesicht treffen.

Meine Frau brachte mich frühmorgens hin und, in der Tat, funktionierte der Mitarbeiterausweis noch. Aus hygienischen Gründen galt es auf den Gängen, Fahrstühlen, Toiletten und in der Kantine Mund und Nase mit einer Alltagsmaske zu bedecken. Auf den Wegen gab es Markierungen, damit sich die Laufwege nicht kreuzten. In den Toiletten und Aufzügen sollte möglichst immer nur einer sein.

Der Anfang verlief beinahe so, wie es noch vor wenigen Monaten üblich war. Schon vor der Pandemie war ich so früh schon relativ alleine in meiner Ecke des Großraumbüros.

Nach einiger Zeit hörte ich Schritte im Nachbarbereich. Ein kurzer Gang brachte Gewissheit, da war die Kollegin, von der ich schon gehört hatte. Sie konnte wegen der Kinder kaum im Homeoffice arbeiten und musste ins Büro kommen. Ich winkte kurz herüber und freute mich schon auf das Frühstück um neun.

Um neun Uhr stand ich, wie früher auch, vom Arbeitsplatz auf. Vor vier Monaten ich zur gegenüberliegende Ecke gegangen und hätte das Frühstück eingeläutet. Wenn nicht vorher ein Kollege mich abgeholt hätte. Nun war ich in diesem Teil des Großraumbüros alleine. Aber da war noch diese Kollegin, die sich bestimmt über Gesellschaft freuen würde. Ich ging an ihrem Bereich vorbei, aber sie winkte nur ab. Anscheinend war sie in einer Telco und hatte keine Zeit. Sie rief etwas von „Danke, aber leider … “ hinter mir her.

Die Tür zur Kantine stand offen. Ich hörte ein paar Stimmen. Es gab redende Kollegen! Als ich eintrat, sah ich sie verstreut sitzen. Sie hielten ihren Abstand ein und redeten ein wenig lauter. Die, die keinen Kaffee oder Brötchen hatten, bedeckten, wie vorgeschrieben, Mund und Nase. Zur Frühstückszeit hatte nur ein Kiosk geöffnet, der Brötchen und Süßigkeiten anbot, geöffnet. Wie früher wählte ich ein Käsebrot. Es war in Klarsichtfolie gewickelt, die bestimmt desinfiziert war. Der Frau an der Kasse konnte ich nur kurz ins Gesicht sehen. Ihre Maske entstellte es für mich. Unsere Begrüßung fiel deutlich unfreundlicher aus, als ich es wollte. An dem Kaffeeautomaten sah ich mich um. Gab es jemanden, den ich kennen sollte? Für mich war das immer recht schwer, da ich mir Gesichter nie so richtig merken konnte. Aber wenn mich jemand anschaut, als würde er mich kennen, dann konnte ich mich vielleicht erinnern. Mit bedecktem Mund-Nasenbereich konnte das gar nicht funktionieren.

Aber so nahm ich an einem verwaisten Tisch Platz und frühstückte alleine. Das fühlte sich gar nicht gut an. Ich war froh, wieder auf dem Gang zu sein. Hier lief ich noch ein wenig herum. An den grauen Wänden klebten noch Post-its von vergangenen ad-hoc Besprechungen. An solchen Stellen konnten auch Unbeteiligte zuhören und so lernen, was in ganz anderen Bereichen gemacht wurde. Es war als wäre die Zeit stehengeblieben. Ein wenig weiter öffnete sich der Gang und hier standen Papphocker zum spontanem Platz nehmen und nachdenken. Mir fielen die aufgeregt diskutierenden Gesichter der jungen Kollegen ein, die vor vier oder fünf Monaten hier diskutiert hatten. War ich in einem ganz verkehrtem Film gelandet? Was war das für ein Film? Es war nicht „Kevin allein „, sondern eher „12 Monkeys“ oder „I am legend“.

Traurig kehrte ich von dem Frühstück an meinem Platz zurück. Durch das Fenster sah ich in den Innenhof und die gegenüberliegenden Bürobereiche. Durch die Glasfronten sah ich verwaiste Schreibtische und Flure. Die Idee jemand bekanntes zufällig zu treffen und sich über die Arbeit oder das Unternehmen oder auch das Wochenende zu unterhalten, die mich in dieses Büro getrieben hatte, schien sich nicht zu realisieren. So vertiefte ich mich in die Arbeit, die zum Glück recht anspruchsvoll war.

Zu Mittag hatte ich ein Gefühl von Hunger, aber noch einmal in diese Kantine wollte ich nicht. Ein Mittagessen konnte ich auch ausfallen lassen, beschloss ich und blieb einfach am Platz. Um drei endete die Kernzeit. Danach konnte ich ruhigen Gewissens schon nach hause fahren. Ich stand auf und sah mich in den Ecken der Bürolandschaft um, in der vor einigen Monaten mir unbekannte Teams gearbeitet haben. In diesen Bereichen lief ich immer mit dem Blick auf den Gang herum, da die Leute bei der Arbeit bestimmt nie gestört werden wollten. Es gab ein Team, das wohl die Ankunft eines neuen Kollegen gefeiert hatte. Das Banner mit Welcome im Team war noch an dem Whiteboard. Das musste unmittelbar vor den Lockdown im März gewesen sein. Wir waren auf dem Teamevent und am Montag war man mit dem Notebook und allgemeinen Abschied beschäftigt.

Meine Stimmung hellte sich im Lauf des Tages ein wenig auf. Ich nahm den Anblick der verwaisten Arbeitsplätze um mich herum eher interessiert lustig auf. Nun konnte ich sehen, was die Kollegen alles so angesammelt hatten. Einer hatte eine ganze Sammlung unterschiedlicher Kräutertees hinter seinem Bildschirm gebunkert.

So hielt ich es aus, bis zum Nachmittag hinein. Zum Schluss sah ich mir die Schreibtische der Chefs hinten in der Ecke an. Da hörte ich ein „Thomas, Du bist auch hier“. Es war der Chef vom Chef. Selten hatte ich mich so gefreut einen Chef zu sehen. Sein Mund-Nasenbereich war unbedeckt, da er im Büro und nicht auf dem Gang war. Vielleicht hatten wir sogar die Hände geschüttelt, obwohl ich mich daran nicht ausdrücklich erinnern kann. Aber an ein ausdrückliches nicht Schütteln kann ich mich auch nicht erinnern. Vermutlich achtete ich damals noch gar nicht auf solch ein Detail.

Neben dem allgemeinen Bedauern der Umstände gab es ein Lob auf die Organisation, die den fliegenden Wechsel ins home office reibungslos umgesetzt hatte. Als er meinte, es wäre nun hoffentlich bald Schluss mit dem Virus, wies ich ihn darauf hin, dass das nicht sein könnte. Jeder Schnupfenvirus würde im Sommer von den gut durchbluteten Schleimhäuten in Schach gehalten und kommt bei kälteren Temperaturen wieder hervor. So hatte ich es bei meinem Nebenfachstudium gehört und neulich auch wieder gelesen. Aber das sei nicht Schlimm, fügte ich hinzu, denn die ursprüngliche Variante, war für achtzig Prozent gar nicht gefährlich und nur für Alte mit Vorerkrankungen problematisch. Die nächsten Varianten wären noch viel ungefährlicher, wollte ich anmerken, aber dazu kam ich nicht mehr. Das mit dem „nur für Alte“ traf bei ihm auf entschiedenen Widerspruch. Man könnte sie doch nicht einfach verrecken lassen, meinte er. Und auch sei die Infektion noch mit Folgeschäden verbunden, so dass man schon vorsichtig sein sollte. Zum Glück hatten er und seine Frau nur ein paar Tage nichts riechen können, genau wie seine Eltern.

Danach kam dann anfangs erwähnter Wortwechsel und eine, vermutlich freundliche, Verabschiedung. Ich dachte an die Coronafälle, die sich in meinem Umfeld ereignet hatten. Auf der einen Seite war da der Exmann meiner Schwägerin in Peru. Er hatte eine schwere Erkältung Anfang Mai. Da er eine teure Krankenversicherung hatte, brachte ihn seine Familie in eine private Klinik in Lima. Dort überlebte er vier Wochen am Beatmungsgerät. Er war an die achtzig und übergewichtig und passte somit in meine Vorstellung, dass Corona Risikopersonen über sechzig schlimm treffen kann. Aber der Kollege meiner Frau, der nach einer Infektion gar nicht mehr auf die Beine kam, passte zu meiner Vorstellung vom ungefährlichen Corona nur, wenn ich die Folgen auf die Depression unter die er seit seiner litt schob. Damit war meine Vorstellung von Corona als hartnäckiger Schnupfen so gerade richtig. Die Fälle, die der Chef-Chef schilderte, bestätigten meine Vorstellung.

Nach Hause ging es mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Das Jahresabo hatte ich nicht gekündigt. Die Maßnahmen waren nur vorübergehend. Es war wenig los am Bahnsteig und in der U-Bahn. Trotzdem verwirrten mich die maskierten Gesichter der Mitreisenden. Ich konnte nicht erkennen, ob sie freundlich, mürrisch, müde, gelangweilt oder auch sauer oder gar feindlich waren. Normalerweise schaue ich mir immer die Gesichter vom Gegenüber an. So schaute ich eher auf den Boden und wusste, dass jemand neben mir saß, von dem ich nicht wusste, wie der gelaunt war. Ein Gefühl von Angst stellte sich ein und ich zählte die Sekunden bis zum Hauptbahnhof. Dort stieg ich aus und ging zu Fuß. Ich nahm mir vor erst wieder mit Bus oder Bahn zu fahren, wenn das ohne Maske geht!


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