Ich drückte die Hand meiner Frau. Loslassen würde ich sie nicht, auch wenn er noch so laut schreit.
„Wir wohnen zusammen“, schrie ich zurück. Der junge Mann blickte zuerst mich zornig an, dann fragend zu seinem Kollegen herüber. Dieser schüttelte nur den Kopf. Die jungen Männer mit ihren Schlagstöcken in der Hand schritten weiter durch die verteilten Menschen mit bedecktem Mund- und Nasenbereich auf dem Kornmarkt. Im vorderen Bereich des Kornmarkts hoben diese ihre Hände seitwärts und klatschten sie über den Kopf zusammen, so wie es die isländischen Fans bei der Fußball WM gemacht hatten. Ob sie auch „Huh“ riefen, weiß ich gar nicht so genau. Wir standen etwa 100 Meter dahinter. Die Hände habe ich gesehen, genauso wie die jungen Männer von der Polizei, die am hinteren Ende des Kornmarkts eine Kette gebildet hatten und dann durch die vereinzelten Demonstranten schritten. Im Abstand von zwei Metern bewegten sie sich langsam. Ihre Schlagstöcke hielten sie in der rechten Hand, das Visier vom Helm war nach oben geklappt. Als sie näher kamen, sah ich dem jungen Mann ins Gesicht. Weder Mund noch Nase war bedeckt, sonst hätte ich meinen Blick sofort wieder abgewendet. Aber so provozierte ich ihn, als ich Augenkontakt aufnahm. Sein Schreien durchzuckte mich. Warum standen wir überhaupt hier herum?
Eigentlich waren wir auf dem Heimweg aus der Stadt an diesem Abend Ende November 2020. An der Mauthalle war eine Absperrung mit Stahlgittern. Hinter den Gittern standen Polizisten mit Schirmmütze. Zwei Gitter in der Mitte der Absperrung waren nach hinten geklappt, so dass sich ein Gang bildete, durch den man gehen konnte. Vor dieser Öffnung standen ein paar Leute, die dann einzeln dadurch gingen. „Da ist tatsächlich diese Querdenken Demo“, kommentierte ich. Meine Frau antwortete sofort mit „Da müssen wir hin. Das müssen wir doch sehen, wie das wirklich ist“. Wir sprachen gar nicht über das Ermächtigungsgesetz, mit dem nun der Gesundheitsminister eine Pandemie ausrufen und Grundrechte einschränken konnte. Vermutlich hatten wir vorher etwas vom Sturm auf dem Bundestag im Fernsehen gesehen und das hier sah irgendwie friedlich aus. Einige Paare mit grauen Haaren passierten die Öffnung, als wir uns näherten. „Sie müssen auf dem Kornmarkt aber Mund und Nase bedeckt halten“, ermahnte uns ein freundlicher Polizist. Er lachte, als wir unsere Lappen zeigten.
Den Hallplatz überquerten wir in einem informellen Grüppchen. Geredet haben wir nicht miteinander, aber es gab ein gemeinsames Ziel. Neben uns lief ein Paar in edlem Zwirn. Er trug einen breitkrempigen Hut und eine Hornbrille, sie hatte sich bei ihm untergehakt und zeigte einen braunen Kamelhaarmantel. Wir haben uns in die Gesichter gesehen und Mut machend zugelächelt. Auf der anderen Seite lief eine jüngere Frau im Parka mit einem abgehärmten, verzweifeltem Gesicht. Sie erinnerte mich an die Begegnung beim „Fritten Kalle“ im Sommer. Damals sprudelte eine ähnliche Frau vor Verschwörungserzählungen. Nun im depressiven November schlug das vereinzelte Leben sichtbar auf das Gemüt. Uns folgte ein schwer atmender Mann, der etwas mitzuteilen hatte, aber das wohl erst nach einer Pause tun könnte.
Es staute sich ein wenig am Eingang des Kornmarkts. Auch hier waren Gitter in ähnlicher Formation aufgestellt. Die Polizisten waren nicht mehr die freundlichen Herren mit Schirmmütze. Hier standen gepanzerte Kämpfer für die richtige Ordnung. Der Helm mit dem geschuppten Nackenschutz gab ihnen das Aussehen von einem Samurai. Am Gürtel trugen sie Pistolen- oder Elektroschockerhalfter, Handschellen und den seltsamen Schlagstock mit Quergriff, den sie Mehrzweckeinsatzstock nannten. Kaum waren wir in dem Durchgang, herrschten sie uns an: „Maske auf! Ab hier nur mit Maske!“. Wir klemmten uns die seitlichen Gummis von dem Lappen um die Ohren, zogen die Oberkante bis über die Nase und betraten die Straße, die am Kornmarkt vorbei führt. Dieser war etwa zur Hälfte mit Figuren ohne Mundnasenbereich bedeckt. Sie sahen unwirklich aus. Ich blickte zu meiner Frau und erschrak. Ihr Gesicht bestand nur noch aus den Augen. Den Rest bedeckte ein quergestreifter Lappen. Ich wollte dann nicht mehr in Gesichter schauen. Vorne, dort wo die Skater ihre Rampen hatten, war der Kornmarkt schon recht gefüllt. Einige hatten Trommeln dabei und betätigten sie. Klänge indianischer Handtrommeln mischten sich mit denen von Fanfarenzügen oder Sambavereinen. Als wir diese näher in Augenschein nehmen wollten, ermahnte uns ein Ordner: „Hier ist es schon zu voll, geht bitte weiter nach hinten“. Wieder zurück auf der Straße fielen sie mir auf. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig stand alle zwei Meter ein Vertreter der Ordnungsmacht in vollem Ornat. Beeindruckt liefen wir die Straße herunter.
Wir liefen bis zum Ende der Menge etwa in der Mitte des Kornmarkts, dort wo die Straße der Menschenrechte zum Opernhaus abzweigt. Hier blieben wir nebeneinander stehen und warteten. Wir schauten nach vorne, wo alle anderen auch hinschauten. Irgendetwas sollte passieren. Etwa auf der Höhe des alten Eingangs vom germanischen Nationalmuseum rief uns ein Tisch mit Flugblättern zu sich. Hinter dem Tisch stand eine Frau mit einem weißen T-Shirt über ihrer Jacke. „Querdenken 911“ stand darauf. Meine Frau unterhielt sich mit ihr, ich betrachtete eher die Auslage. Sie gingen wohl tatsächlich von einer großen Verschwörung aus. Jedenfalls stand so etwas auf den Flyern. Hübsch gemacht fand ich die Buttons mit Maske-nein-danke oder auch Corona-Rebell. Geradezu sensationell fand ich die Idee mit den Chips für Einkaufswägen. Kaum hatte ich einen in der Hand, erzählte die Frau hinter dem Tisch: „Das kann man dann in den Wägen lassen, damit das weiter verbreitet wird. Sind alles umsonst, gegen Spende“. Das erinnerte mich an das Buch über Guerilla Marketing. Wenn man nicht viel hat, muss man kreativ sein!. Auf diesen Chip stand etwas von Reitschuster.de und auch von t.me/qd911. Das waren internet Adressen, die ich mir merkte. Meine Frau unterhielt sich immer noch mit der Frau hinter dem Tisch. Ich wusste nicht richtig, was ich unter der Maske zu sagen hätte. Erleichtert hörte ich die Aufforderung aus dem Lautsprecher „Verteilt Euch noch mehr, da hinten ist doch noch Platz. Geht nach hinten …“.
Brav machten wir uns auf den Weg zurück in die letzte Reihe. Den Abstand nach links, rechts und auch zum Vordermann betrug sicherlich mehr als ein Meter. Von vorne kamen noch eine Reihe Nachzügler, so dass wir schon bald nicht mehr in der letzten Reihe standen. Als die Kundgebung mit den Ansprachen anfing, sah ich mich genauer um. Der Kornmarkt war etwas zu drei Vierteln gefüllt. Ganz am Ende des Platzes stand wieder Polizei.
Das Soundsystem der Veranstalter reichte aus, um den gesamten Kornmarkt zu beschallen. Eine junge Frau sprach. Sie ermahnte die Abstände einzuhalten und die Mundnasenbedeckung nicht abzulegen, da sonst die Polizei die Veranstaltung beenden würde. Auf keinen Fall dürften rechtextremistische Äußerungen und Anspielungen gemacht werden, fügte sie hinzu. An dieser Stelle hielt sie kurz inne und legte los: „Dass uns so etwas unterstellt wird. Wir sind doch auf keinen Fall Nazis. Die kennen uns doch. Wir standen in Lauf am Bahnhof, als die Flüchtlinge 2015 ankamen, und haben sie begrüßt und mitgeholfen, dass die sich zurecht finden.“ Ich grinste, als ich das hörte und schüttelte die Hand meiner Frau. Aber als wir uns ansahen, sah ich nur ihre Augen und schaute direkt wieder weg.
Der nächste Sprecher stellte sich als Logopäde vor. Mit dem Zwang zur Bedeckung von der Mundpartie konnte er gar nicht mehr arbeiten. Wie sollte er einem Patienten zeigen, wie die Zunge bei den Lauten zu liegen hat? Wie konnte er die Form der Mundöffnung zeigen? Außerdem konnte er nicht kontrollieren, ob der Patient sich nur zufällig richtig anhört, dabei aber ganz andere Mundöffnung oder Zungenstellung hat. Durch die Bedeckung war die ganze Behandlung unmöglich geworden. Er wies auch auf seine Tätigkeiten im Rahmen des Deutschunterrichts für Ausländer hin, die so auch nicht mehr richtig stattfinden könnte.
Von den anderen Beiträgen erinnere ich mich nur noch an eine Botschaft aus Israel. Eine Frauenstimme las vor. Die Botschaft kam von einer jüdischen Gemeinde, die nach ihren seit tausenden von Jahren überlieferten Regeln lebte. Mit den in Israel geltenden Coronaregeln war das nicht mehr möglich. Aber sie würden sich diesen weltlichen Regeln nicht beugen, auch wenn Polizei und Militär einschreiten würden. Mit Gottes Hilfe würden sie ihre Art zu leben verteidigen. Die Frauenstimme las die Botschaft so lebendig vor, dass die Menge am Schluss mit Beifall oder auch ein lauten „Amen“ reagierte. Ich nickte mit dem Kopf und dachte ob ich nicht zu einer Religionsgemeinschaft gehen sollte, die sich einfach trifft, auch wenn das verboten wäre. Der junge Mann in Uniform riss mich aus diesen Gedanken, ich drückte die Hand meiner Frau. Wir schauten uns an und sie meinte: „Wir gehen hier lieber“.
„Gehen wir zur anderen Seite heraus“, schlug ich vor. Zwar hoffte ich nur, dass dort ein Ausgang war, aber schon nach wenigen Schritten sahen wir die Absperrung am anderen Ende des Kornmarkts. An der rechten Seite war ein Gitter aufgeklappt. Dort standen uniformierte, junge Männer Spalier. Dahinter stand eine Traube Zivilpersonen, die zum einen ihr Gesicht zeigten und zum anderen die Demonstration interessiert betrachteten. Kaum waren wir draußen, nahmen wir die Lappen ab und atmeten durch. „Ohne Maske ist besser“, hörte ich eine Frauenstimme. Neben einen Bollerwagen mit Bibeln und anderen Schriften lächelte uns eine züchtig gekleidete Frau mit Kopftuch zu. Wir unterhielten uns einige Zeit mit ihr. Es war die Adventistengemeinde. Sie freute sich zu missionieren und wir freuten uns mal mit jemanden zu reden, den wir zufällig begegneten. Das angebotene Buch, es war umsonst, musste ich einfach mitnehmen, zumal es von bösen Mächten handelte, die die Welt übernehmen wollten. Hatte ich hier eine religiöse Gruppe gefunden, die im Corona Widerstand war?
Daheim legte ich das Buch auf den Tisch vor dem Fernseher und nahm mir vor es bestimmt zu lesen. Aber zunächst ging es ins Internet. Die Webseite von den Adventisten in Nürnberg erklärte die für die Messe geltenden Coronaregeln, die leider einzuhalten wären. Das war es also mit dem Widerstand. Die Telegramgruppe von den Querdenkern in Nürnberg war viel interessanter. Anscheinend hatten diese einen Demonstrationszug zur Kundgebung geplant, der aber von einer Streife aufgehalten wurde. Beim nächsten Mal würden sie alles besser machen.
Das Buch von den Adventisten war Jahrgang 1920 . Anscheinend gab es schon immer eine Verschwörung für den Weltuntergang. Zum Glück hat das bisher noch nie geklappt.